Kein Kopf für Lesen und Schreiben?

Legasthenie (Lese-Rechtschreib-Schwäche, LRS) hat nichts mit mangelnder Intelligenz oder zu geringer Konzentrationsfähigkeit zu tun – im Gegenteil.

Das Problem wird in der Regel zwischen dem ersten und dem dritten Schuljahr deutlich. Unter Klassenarbeiten und auf Zeugnissen stehen Bemerkungen wie: „Versuche, sorgfältiger zu arbeiten“, „Du bist oft noch zu verträumt“ oder „Du musst lernen, dich besser zu konzentrieren“.

Die Leistungen im Lesen und Schreiben schwanken manchmal extrem. Da gibt es Diktate fast ohne Fehler, und Lehrer, Eltern und das Kind selbst hoffen, jetzt sei der Knoten geplatzt – aber gleich bei der nächsten Klassenarbeit brechen die Leistungen wieder ein. Wörter, die das Kind schon hundertmal richtig geschrieben hat, vielleicht sogar noch in der Zeile direkt darüber, stehen auf einmal völlig verdreht und kaum zu entziffern im Heft. Die Handschrift ist ein einziges Krickelkrakel, die Buchstaben purzeln wild durcheinander, kleben an manchen Stellen zusammen, an anderen Stellen gibt es sinnlose Lücken mitten im Wort. Wörter verrutschen im Satz und manchmal gehen ganze Satzteile auf Wanderschaft.

Für Nicht-Legastheniker ist es kaum nachvollziehbar, warum ein intelligentes Kind so etwas Einfaches wie Lesen und Schreiben „nicht können kann“, und oft machen sie das Problem mit gut gemeinten Aufforderungen wie „schau es dir genau an“, „hör richtig hin“ oder „konzentrier dich“ unbeabsichtigt noch größer. Denn Anstrengung und Konzentration des Kindes sind bereits am Anschlag oder schon überdreht.

Legastheniker lernen anders.

Mehr als 90 Prozent der Schüler lernen das Lesen und Schreiben mithilfe automatischer Abläufe, mit denen ihr Gehirn ihre Wahrnehmungen steuert und verarbeitet. Bei Legasthenikern funktioniert das Zusammenspiel von Ohren oder Augen mit dem Gehirn weniger „geordnet“, sie hören und sehen anders, deshalb benötigen sie andere Methoden, um gesprochene Sprache in Schrift umzusetzen (Schreiben) oder Schrift in gesprochene Sprache (Lesen, auch stilles Lesen). Sie brauchen mehr Zeit, um zu ordnen und zu prüfen, was sie sehen und hören, und sie brauchen zuverlässige, systematische Regeln, die ihnen dabei helfen, Wörter in einzelne Laute zu zerlegen und diese in Buchstaben zu übertragen und umgekehrt aus einzelnen Buchstaben Wörter, zusammenhängende Sätze und ganze Texte zu bilden. Das heißt: Lesen und Schreiben sind für sie erheblich aufwendiger als für andere Menschen, sie müssen dabei viel mehr nachdenken als ihre Mitschüler.

Vor allem motivierte, intelligente Kinder mit Legasthenie geraten in der Schule geradezu in eine Falle: Da in der ersten Klasse das Lerntempo mit Rücksicht auf weniger leistungsfähige Mitschüler recht langsam ist, haben sie genug Zeit, sich die richtigen Lösungen zu erschließen und können zunächst problemlos mithalten. Außerdem werden kleine Schreib- und Lesefehler im Unterricht zunächst noch toleriert. Wenn dann in der zweiten oder dritten Klasse das Lesen und Schreiben als gelernt angesehen wird und das Tempo anzieht, bekommt das Kind nach und nach immer größere Probleme. Die selbst entwickelten Strategien funktionieren nicht mehr zuverlässig, und es kann sich noch so sehr anstrengen, seine Leistungen fallen immer weiter ab. Mehr oder weniger betrifft das alle Schulfächer, da, abgesehen vielleicht von Sport und Werken, in jedem Fach Leseverständnis und Schreibfähigkeiten notwendig sind.

Um gut zu lernen, brauchen Kinder Selbstbewussstsein.

Gerade für Kinder, die gern lernen, ist dieses „Schulversagen“ eine aussichtslose Situation, die sie selbst nicht auflösen können. Die andauernde Frustration führt leicht dazu, dass das Kind an sich selbst zweifelt und verzweifelt. Es hält sich für dumm oder glaubt, es sei einfach faul und strenge sich nicht richtig an. Vielleicht versucht es, sein „Versagen“ zu kompensieren, indem es die Rolle des Klassenclowns übernimmt oder sich besonders aggressiv gegenüber schwächeren Mitschülern verhält. Oder es reagiert mit Vermeidung, Schüchternheit und Ängstlichkeit und entwickelt möglicherweise eine große Schulangst, die sich in häufigen Krankheiten (z. B. Bauchweh, Übelkeit, Kopfschmerzen) äußert.

Eine Legasthenie, insbesondere wenn sie nicht erkannt wurde, wirkt sich in der Regel über die Schulzeit hinaus negativ aus: Schätzungsweise vier Prozent der Schülerinnen und Schüler sind Legastheniker. Der Anteil von Legasthenikern unter den Studierenden an Fachhochschulen und Universitäten beträgt dagegen nur ca. 0,4 Prozent. Das bedeutet: Neun von zehn Legasthenikern bleiben bei ihrer Bildungs- und folglich auch Berufslaufbahn hinter ihren intellektuellen Möglichkeiten zurück.

Wie wird Legasthenie festgestellt?

Eltern und auch Lehrer haben häufig die Vorstellung, man könnte Legasthenie an „typischen“ Fehlern erkennen, zum Beispiel an Buchstabendrehern im Wort. Das ist allerdings ein Irrtum – wenn es überhaupt etwas Typisches an den Schreibfehlern von Legasthenikern gibt, dann, dass jeder Fehler jedes Mal „neu erfunden“ wird.

Zur Feststellung einer Lese-Rechtschreib-Schwäche wird ein schulpsychologischer Test durchgeführt, der die Intelligenz und die Konzentrationsfähigkeit des Kindes mit seinen Lese- und Rechtschreib-Fähigkeiten vergleicht. Wenn hier ein Unterschied besteht, der über ein bestimmtes Maß hinausgeht, wird eine Lese-Rechtschreib-Schwäche attestiert. In der Schule wird oft in der zweiten oder dritten Klasse eine vereinfachte Form dieses Tests durchgeführt, bei dem aber nicht immer alle lese- und rechtschreibschwachen Kinder erkannt werden. (Weil die Tests sich am zu erwartenden Leistungsniveau des ganzen Jahrgangs orientieren, können sehr intelligente Kinder den Test „austricksen“.)

Wenn Eltern vermuten, dass ihr Kind Legastheniker sein könnte, können sie einen qualifizierten Test bei einem Schulpsychologen durchführen lassen. Zuvor sollten sie sich beispielsweise vom Kinderarzt oder von einem Schulpsychologen beraten lassen, ob beziehungsweise wann im Einzelfall ein Test sinnvoll ist.

Ist Legasthenie heilbar?

Nein, Legasthenie ist genetisch bedingt. Aber es gibt sehr gute Förderprogramme und ­-methoden, die Legasthenikern helfen, ihre Einschränkung im Laufe einiger Jahre weitgehend auszugleichen. Je früher Kinder ein Lese-und-Rechtschreib-Training erhalten, desto wirksamer ist es, aber auch Jugendlichen und sogar Erwachsenen kann es noch gut helfen. Dabei geht es vor allem darum, auf eine andere Art zu lernen als in der Schule: Das Lesen und Schreiben wird bei einem Legastheniker nie ganz automatisch funktionieren, er muss die richtige Lösung immer anhand von genauen Regeln und schlüssigen Gedächtnisstützen erschließen und konstruieren. Viele Kinder entwickeln dabei mit der Zeit eine so große (Denk-)Geschwindigkeit, dass sie fast so schnell und sicher lesen und schreiben können wie Nicht-Legastheniker.

Wichtig zu wissen: Jede Legasthenie ist individuell. Ein Lese-Rechtschreib-Training, das für den einen Legastheniker ideal ist, ist für einen anderen möglicherweise nicht optimal. Eltern und Kinder sollten nicht aufgeben, wenn es nicht gleich beim ersten Gruppen- oder Einzeltrainingsplatz „passt“, sondern unbedingt weitersuchen! Ist der richtige Platz gefunden, merkt das Kind dies sehr schnell daran, dass es dort entspannt und mit Freude lernen kann.

Wie hilft der Nachteilsausgleich in der Schule?

Wenn eine Legasthenie festgestellt und attestiert wurde, hat das Kind bis zu seinem Schulabschluss (und auch im Studium) Anspruch auf einen sogenannten Nachteilsausgleich, zum Beispiel auf Notenschutz, das heißt, dass die Rechtschreibung nicht in die Bewertung von Klassenarbeiten einfließt. Bessere Zeugnisnoten wirken sich positiv und aufbauend auf das Selbstbewusstsein des Kindes aus, und sie spielen auch für die Schulartempfehlung am Ende der Grundschule eine wichtige Rolle. Deshalb sollte der Notenschutz zumindest in der Grundschule und in den ersten Jahren der weiterführenden Schule in Anspruch genommen werden. Eine weitere Erleichterung, die Schüler mit Lese-Rechtschreib-Schwäche erhalten können, ist zusätzliche Zeit bei Klassenarbeiten oder die Erlaubnis, Klausuren nicht mit der Hand zu schreiben, sondern am Laptop zu tippen.

Für die letzten Schuljahre entscheiden sich viele Schülerinnen und Schüler, auf den Nachteilsausgleich zu verzichten, damit ihre Legasthenie nicht aus ihrem Abschlusszeugnis hervorgeht. Auch wenn die Vorurteile gegenüber Legasthenikern allmählich abnehmen, ist das in vielen Fällen eine vernünftige Entscheidung.

Ist Legasthenie eine Behinderung?

Legasthenie ist eine gesetzlich anerkannte Behinderung, wenn auch keine geistige, psychische oder sichtbare körperliche. Davon betroffen waren zum Beispiel Leonardo da Vinci, Hans Christian Andersen, Albert Einstein und Agatha Christie – hochintelligente und hochkreative Menschen, die aber ihr ganzes Leben von ihrer Beeinträchtigung begleitet wurden.

Die Bezeichnung „Behinderung“ ist jedoch problematisch, weil sie einen sehr negativen Klang hat. Es fällt leichter, die Legasthenie zu akzeptieren, wenn man sie als persönliche Besonderheit versteht, wie zum Beispiel Linkshändigkeit oder Farbenblindheit. Es ist eine Einschränkung in einem begrenzten Bereich, und man kann lernen positiv damit umzugehen. Wer es schafft, sich von seiner Legasthenie nicht entmutigen zu lassen, kann daraus sogar besondere Fähigkeiten entwickeln: Denk- und Gedächtnisleistungen, Logik, Vorstellungskraft, Improvisationsvermögen, Einfühlung, Ausdauer – und die Fähigkeit, bei Misserfolgen nicht gleich aufzugeben, sondern es weiter zu versuchen.

Sollten Eltern mit ihren Kindern üben?

Besser nicht, überlassen Sie das lieber ausgebildeten LRS-Trainern! Aus zwei wichtigen Gründen: Erstens brauchen Legastheniker zum Lesen- und Schreibenlernen völlig andere Methoden, als in der Schule angewendet werden und mit denen auch die Eltern gelernt haben. Zweitens überträgt sich die Anspannung, unter der das Kind nach zahlreichen Misserfolgserlebnissen steht, beim gemeinsamen Üben auf die Eltern, und umgekehrt überträgt sich auch die Sorge der Eltern um die schulischen und beruflichen Chancen ihres Kindes. Stress und Sorge sind aber die größten Hindernisse beim Lernen, deshalb kann das Üben mit den Eltern schnell mehr schaden als nützen.

Als Mutter oder Vater können Sie Ihrem Kind aber eine ungeheuer wichtige Unterstützung geben: Helfen Sie Ihrem Sohn oder Ihrer Tochter, möglichst entspannt mit dem Lesen und Schreiben – und mit der Legasthenie – umzugehen. Das fängt mit regelmäßigen Pausen und Lockerungsübungen für Nacken, Schultern, Arme und Hände an: Da es sehr anstrengend für das Kind ist, die Buchstaben auf dem Papier „festzuhalten“, und in der Regel auch die Auge-Hand-Koordination eingeschränkt ist, drückt es wahrscheinlich den Stift zu stark auf und verkrampft sich schnell. Achten Sie auch darauf, dass Stift und Papier geeignet sind: Sprechen Sie mit den Lehrerinnen und Lehrern Ihres Kindes ab, dass es mit einem Bleistift oder einem Tintenroller statt mit einem Füller schreiben darf. Sorgen Sie dafür, dass es auf möglichst glattem Papier schreibt, Recyclingpapier ist oft stumpf und bremst den Stift zusätzlich. Seien Sie aufmerksam auf vermeintliche Kleinigkeiten und besprechen Sie mit Ihrem Kind, was ihm hilft und was hinderlich ist. Basteln Sie (in Absprache mit den LRS-Trainern) zusammen mit Ihrem Kind Lesehilfen aus Pappe, die helfen, die Zeile zu halten. Gehen Sie mit Ihrem Kind zusammen einen besonders schönen Karteikasten kaufen, in den es seine Lernkarten einsortieren kann. Schaffen Sie gute Stimmung und nutzen Sie alle möglichen Gelegenheiten, um aus dem Lernen ein gemeinsames, schönes Erlebnis zu machen!

Vielleicht können Sie auch gemeinsam mit Ihrem Kind entdecken, dass Fehler nicht immer schlimm sind, sondern auch lustig sein, auf Ideen bringen, zu Entdeckungen und Erfindungen anregen können. (Haben Sie zum Beispiel schon einmal den Granitkäse* im Supermarkt gesehen? Was kann man damit wohl anstellen?)

* Gratinkäse